Organisierte Manipulation Minderjähriger zu sexualisierten Selbstdarstellungen, Selbstverletzung und Suizid
(Stand 11.07.2025)
Unter dem Pseudonym „White Tiger“ soll ein 20-jähriger Mann aus Hamburg als führendes Mitglied der Online-Community namens „764“ tätig gewesen sein, deren Mitglieder gezielt Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 15 Jahren manipuliert haben. Dabei sollen Betroffene zu sexuellen Handlungen, zur Selbstverletzung und sogar zum Suizid angeleitet worden sein. Ein 13-Jähriger nahm sich mutmaßlich infolge dieser Einflussnahme das Leben. Der Fall offenbart, wie pädokriminelle und rechtextreme Täter sich über diverse Plattformen hinweg vernetzen und welchen Risiken Kinder und Jugendliche durch die Kontaktanbahnung in Sozialen Medien ausgesetzt sind.
Cybergrooming, Sextortion, extreme „Selbstmord-Challenge“
Betroffen waren vor allem psychisch vorbelastete Minderjährige (z. B. mit Depressionen oder Suizidgedanken), die in Chat-Foren oder Online-Games unterwegs waren. Die Täter:innen haben zu den jungen User:innen Kontakt aufgenommen und Vertrauen zu ihnen aufgebaut (Grooming bzw. Cybergrooming)1, um sie dazu zu bringen, sexualisierte Darstellung anzufertigen, zu versenden, und sie damit zu erpressen. (Sextortion).
Außerdem wurden die Minderjährigen dazu aufgefordert, in Live-Chats bzw. -Streams sexuelle Handlungen durchzuführen oder sich zu verletzen. Die Aufnahmen wurden in der Online-Gruppe von „764“ geteilt.
Hier ist eine Parallele zu so genannten „Suizid-Challenges“ ersichtlich, die in unterschiedlichen Formen immer wieder im Netz kursieren. Auch dabei stellen anonyme Spielleitende Aufgaben, wie z. B. verschiedene Formen der Selbstverletzung, die von den Teilnehmenden durchlaufen und dokumentiert werden müssen. Die letzte Aufgabe beinhaltet den Suizid. Sollten Aufgaben nicht erfüllt werden, wird mit der Veröffentlichung von persönlichen Daten, Bildern oder mit Gewalt gedroht. In den Medien besonders präsent waren in den vergangenen Jahren vor allem die „Blue Whale“- und die „Momo“-Challenge.
Nicht-öffentliche Kommunikation und ungenügende Vorsorgemaßnahmen
Auf die Problematik geschlossener Chatgruppen, Foren, Kanäle auf Social-Media-Diensten sowie der Anbahnungsmöglichkeiten auf Gaming- und gaming-nahen Plattformen verweist jugendschutz.net schon länger. Betroffen sind sowohl verschiedene Dienste wie die Chat-Plattform Discord, Instagram, der Messengerdienst Telegram oder die Spieleplattform Roblox wie auch unterschiedliche Themenfelder, z. B. Cybergrooming, sexuelle Belästigung, Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige, Vernetzung Pädokrimineller oder politischer Extremismus.
Bei der Ergreifung von Maßnahmen sind insbesondere zwei große Problemfelder festzustellen:
Zum einen findet die Kommunikation in solchen Fällen weitgehend nicht-öffentlich statt, in geschlossenen Gruppen bzw. Kanälen oder in der Direktkommunikation zwischen Tätern und Opfern. Entsprechend haben Außenstehende wie etwa auch Akteure des Jugendmedienschutzes keinen Einblick. Polizeiliche Ermittlungen und Strafverfolgung sowie investigativer Journalismus sind häufig einzige Informationsquelle sowie Vorgehensweisen der Bekämpfung.
Zum Zweiten sind die Vorsorgemaßnahmen von Diensten nicht hinreichend, um Kinder und Jugendliche zu schützen. Die Gruppe „764“ nutzte nach Presseangaben Plattformen wie Instagram, Facebook oder das Online-Spiel Minecraft sowie Telegram und Discord. Der Dienst Telegram geht nur ungenügend gegen z.B. extremistische Inhalte und sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige vor. Der gerade bei Jugendlichen sehr beliebte und relevante Kommunikationsdienst Discord wiederum weist Meldemöglichkeiten auf und reagiert auch, doch besteht hier Verbesserungspotenzial. Von Discord implementierte sowie weitere denkbare Vorsorgemaßnahmen setzen zudem eine verlässliche Altersprüfung voraus – diese fehlt bislang. Hinzu kommt, wie bei den anderen Diensten auch, die Gefahr der Verlagerung der Kommunikation auf externe Kommunikationsdienste.
Zur Gruppe „764“
Bei der Gruppierung „764“ handelt es sich um ein in den USA gegründetes Onlinenetzwerk. Relativ abgeschottet von öffentlichen Kommunikationsplattformen tauschen sich User:innen auf unterschiedlichen Diensten in verschiedenen Kanälen weltweit aus. Ideologisch knüpft „764“ an den seit den 1970er Jahren bestehenden „Order of Nine Angles“ (Orden der neun Winkel, ONA/O9A) an, einem rechtsesoterischen, satanistischen, rechtsextremen und akzelerationistischen Netzwerk mit Terrorbezügen. Geprägt sind die vielfältigen, fast ausschließlich englischsprachigen Publikationen, die auch online etwa auf Telegram zu finden sind, von Menschenverachtung, von Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass und Homosexuellenfeindlichkeit, von NS-Verherrlichung, Holocaustleugnung und Gewaltpropaganda.
In der jüngeren Vergangenheit fanden sich in den Onlinepräsenzen auch Verbindungen zur sogenannten Terrorgram-Szene, zu der etwa die rechtsterroristische Gruppe „Atomwaffen Division“ zählt. In Großbritannien, dem Gründungsland des ONA-Netzwerks, werden dieser diverse Gewalttaten zugeschrieben: Allein zwischen 2019 und 2020 wurden vier Teenager mit Verbindung zum ONA wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt.
In den USA undKanada stufen Sicherheitsbehörden „764“ als terroristisches bzw. gewalttätiges extremistisches Netzwerk ein. Darüber hinaus wurden seit seiner Gründung 2021 in mindestens acht Ländern Personen aus dem Netzwerk verhaftet und u.a. wegen sog. Kinderpornografie und Mord verurteilt. Aufgrund seines dezentralen, internationalen Charakters treten das Netzwerk und seine Splittergruppen unter verschiedenen Bezeichnungen auf (so auch unter „the com“ oder „COM“ für „the Community“ als übergeordneter Begriff für das gesamte Netzwerk). Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass hunderte Personen weltweit mit dem Netzwerk in Beziehung stehen und sich an seinen Aktivitäten beteiligen.
Aufgrund dieser Probleme ist es wichtig, dass Minderjährige für Anbahnungsrisiken, Erpressungs- und Manipulationsmöglichkeiten sensibilisiert werden. Sie sollen die Kompetenz entwickeln, solchen Anbahnungen zu widerstehen, und sich ermutigt fühlen, entsprechende Versuche etwa Eltern, Lehrer:innen und/oder Diensten mitzuteilen und sich Rat zu holen.
1 Laut der aktuellen JIM-Studie hatten 29 % der befragten 12- bis 19-Jährigen negative Erlebnisse in puncto Sexueller Belästigung. Die Wahrscheinlichkeit für sexuell motivierte Belästigungen nimmt über alle befragten Altersgruppen hinweg mit steigendem Lebensalter kontinuierlich zu. Hierbei ist Instagram mit deutlichem Abstand die Plattform, die am häufigsten genannt wird (38 %), gefolgt von TikTok (19 %) sowie Snapchat (14 %). 24 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben Erfahrung mit Cybergrooming gemacht, so das Ergebnis einer aktuellen Befragung der Landesanstalt für Medien NRW. In der Altersgruppe der 8- bis 13-Jährigen liegt der Anteil bei 16 %. Die Kontaktaufnahme erfolgt vor allem über Soziale Medien (87 %), am häufigsten über Snapchat und Instagram, sowie über Online-Spiele (13 %). Etwa jede:r zehnte Jugendliche gab an, von einer erwachsenen Person dazu aufgefordert worden zu sein, sich vor der Kamera auszuziehen.